Paul VI. zum Novus Ordo - I
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- 19. November 2019
Am 19. November 1969 hielt Papst Paul VI. vor der Generalaudienz die erste von zwei Ansprachen zur Vorbereitung auf die Einführung des Novus Ordo, die nach der Konstitution „Missale Romanum“ knapp zwei Wochen später, zum 1. Adventssonntag am 30. November in Kraft trat. Eine englische Fassung dieser Rede wurde in der Wochenausgabe des Osservatore Romano vom 27. November veröffentlicht. Sie ist die Grundlage unserer Übersetzung – andere deutsche Fassungen sind zumindest im Internet nicht greifbar. Die zweite Ansprache zum Thema folgte dann am 26. November.
Hier zunächst das Dokument – anschließend unsere aktuelle Kommentierung, die wir in zwei Abschnitte zum Grundsätzlichen und zu den pastoralen Einzelheiten unterteilen. (Einen ersten Kommentar hatten wir bereits einmal vor 10 Jahren veröffentlicht.)
Liebe Söhne und Töchter,
- Wir wollen eure Aufmerksamkeit auf ein Ereignis lenken, das der Lateinischen Katholischen Kirche unmittelbar bevorsteht: Die Einführung der Liturgie nach dem Neuen Ordo der hl. Messe. Diese Liturgie wird in den italienischen Diözesen vom 1. Adventssonntag an verpflichtend, er fällt in diesem Jahr auf den 30. November. Die hl. Messe wird künftig in einer Weise gefeiert, die sich deutlich von dem unterscheidet, woran wir in den letzten 400 Jahren seit Papst Pius V. und dem Konzil von Trient gewöhnt waren.
- Diese Veränderung ist etwas ganz erstaunliches und außergewöhnliches, denn die hl. Messe gilt als der traditionelle und unveränderliche Ausdruck unseres Gottesdienstes und unserer Rechtgläubigkeit. Wir stellen uns die Frage: Wie konnte es zu einer solchen Änderung kommen? Wie wird sie sich auf diejenigen auswirken, die die hl. Messe besuchen? Auf diese Fragen und auf andere, die aus dieser Neuerung entstehen, werden sie Antworten erhalten, diese Antworten werden in allen Kirchen verkündet werden. Sie werden überall und in allen kirchlichen Veröffentlichungen und in allen Schulen, wo die christliche Lehre gelehrt wird, vielfältig wiederholt werden. Wir ermahnen euch, aufmerksam zuzuhören – dann werdet ihr ein deutlicheres und tieferes Verständnis der staunenswerten und wunderbaren Bedeutung der hl. Messe erhalten.
- In dieser kurzen und einfachen Ansprache versuchen Wir, euch nur die ersten Schwierigkeiten zu erleichtern, die diese Veränderung mit sich bringt. Wir gehen dazu auf die ersten drei Fragen ein, die einem dabei unmittelbar in den Sinn kommen.
- Wie kann eine solche Veränderung möglich sein? Antwort: sie beruht auf dem Willen des ökumenischen Konzils, das vor nicht allzulanger Zeit stattgefunden hat. Das Konzil hat bestimmt: „Der Meß-Ordo soll so überarbeitet werden, daß der eigentliche Sinn der einzelnen Teile und ihr wechselseitiger Zusammenhang deutlicher hervortreten und die fromme und tätige Teilnahme der Gläubigen erleichtert werde.
- Deshalb sollen die Riten unter treulicher Wahrung ihrer Substanz einfacher werden. Was im Lauf der Zeit verdoppelt oder weniger glücklich eingefügt wurde, soll wegfallen. Einiges dagegen, was durch die Ungunst der Zeit verlorengegangen ist, soll, soweit es angebracht oder nötig erscheint, nach der altehrwürdigen Norm der Väter wiederhergestellt werden.“ (SC 50)
- Die Reform, die jetzt in Kraft treten wird, ist also die Erfüllung eines autoritativen Auftrags der Kirche. Sie ist ein Akt des Gehorsams. Sie ist ein Akt des Zusammenhalts der Kirche mit sich selbst. Sie ist ein weiterer Entwicklungsschritt ihrer authentischen Tradition. Sie ist ein Zeugnis von Treue und Lebenskraft, dem wir alle ohne zu zögern Zustimmung schulden.
- Sie ist kein willkürlicher Akt. Sie ist auch kein zeitlich begrenzter Versuch, an dem man sich beteiligen kann oder auch nicht. Sie ist kein improvisierter Akt von Diletanten. Sie ist Gesetz. Sie wurde von kompetenten Experten der heiligen Liturgie ausgearbeitet und sie wurde lange Zeit erörtert und bedacht. Wir müssen es uns angelegen sein lassen, sie freudigen Herzens anzunehmen und exakt, einheitlichen Sinnes und sorgfältig in die Praxis umzusetzen.
- Diese Reform setzt den Unsicherheiten, den Debatten und den willkürlichen Mißbräuchen ein Ende. Sie ruft uns zurück zu der Einheitlichkeit der Riten und der Empfindungen, wie sie der katholischen Kirche zu eigen sind, der Erbin und Fortführerin jener ersten christlichen Gemeinde, die „ein Herz und eine Seele war“ (APG 4:32). Die Einmütigkeit des Betens der Kirche ist die Stärke ihrer Einheit und ihres Katholisch-Seins. Die bevorstehende Veränderung darf diese Einmütigkeit nicht zerbrechen oder stören. Sie soll sie befestigen und sie mit einem neuen, einem jugendlichen Geist erfüllen.
- Die zweite Frage ist: wie sehen die Veränderungen im einzelnen aus?
- Ihr werdet selbst sehen, daß es viele neue Vorgaben für die Feier der hl. Messe gibt. Sie werden vor allem in der Anfangszeit eine beträchtliche Aufmerksamkeit und Sorgfalt erfordern. Doch die persönliche Frömmigkeit und der Gemeinschaftssinn werden es Euch leicht und angenehm werden lassen, die neuen Vorschriften zu beachten. Aber haltet das folgende deutlich im Bewußtsein: Nichts an der Substanz der traditionellen hl. Messe ist verändert worden. Vielleicht lassen sich Einige von dem Eindruck, den manche besondere Zeremonien oder Rubriken auf sie machen, zu der Annahme verleiten, daß darin eine Veränderung oder Verkleinerung von unveränderlichen Glaubenswahrheiten liegt und bekräftigt wird. Sie könnten zu der Ansicht kommen, daß der Gleichklang zwischen der Weise des Gebetes, der lex orandi, und der Weise des Glaubens, der lex credendi, dadurch beeinträchtigt worden ist.
- Das ist definitiv nicht der Fall. Vor allem deshalb nicht, weil der Ordo und die darauf bezüglichen Rubriken für sich keine dogmatische Definition darstellen. Ihr theologischer Stellenwert mag je nach dem liturgischen Kontext, in dem sie stehen, unterschiedlich sein. Sie sind Zeichen und Ausdruck eines spirituellen Vorgangs, eines lebendigen und erfahrbaren Vorgangs, hinter dem das unaussprechliche Geheimnis der göttlichen Gegenwart steht, das nicht immer in ein- und derselben Weise ausgedrückt wird. Nur der theologische Scharfsinn kann diesen Vorgang analysieren und in Lehraussagen ausdrücken, die unserer Vernunft entsprechen. Die Messe des neuen Ordo ist und bleibt die gleiche Messe, die wir immer hatten. Wenn sich etwas geändert hat, dann das, daß ihre Selbstindentität in einiger Hinsicht noch klarer zum Ausdruck gebracht wird.
- Die Einheit des Herrenmahls und des Opfers am Kreuze in ihrer Darstellung und Erneuerung in der hl. Messe wird nach dem neuen Ordo ebenso unverletzlich bekräftigt und gefeiert, wie das nach dem alten Ordo der Fall war. Die hl. Messe ist und bleibt das Gedächtnis von Christi letztem Abendmahl. Bei diesem Mahl verwandelte der Herr das Brot und den Wein in Seinen Leib und Sein Blut und setzte das Opfer des neuen Bundes ein. Er wollte, daß dieses Opfer als ein und dasselbe durch die Vollmacht Seines Priestertums erneuert werde, das er den Aposteln übertrug. Nur die Art und Weise der Darbringung ist verschieden, sie ist unblutig und sakramental, und sie erfolgt im ewigen Gedenken an Ihn, bis Er wieder kommt. (De la Taille, Mysterium Fidei, Eluc. IX).
- In der neuen Ordnung werdet ihr feststellen, daß die Beziehung zwischen der Liturgie des Wortes und der Liturgie der Eucharistie im engeren Sinne deutlicher ausgedrückt wird, nämlich so, daß die letztere zur praktischen Antwort auf die erstere wird (vergl. Bouyer). Ihr werdet feststellen, in welchem Ausmaß die Versammlung der Gläubigen aufgerufen ist, an der Feier des eucharistischen Opfers teilzunehmen und wie sie in der hl. Messe in Tat und Bewußtsein wirklich „Kirche“ sind. Ihr werdet noch weitere wunderbare Züge entdecken. Aber glaubt nicht, daß diese Dinge die Absicht haben, ihr wahres und traditionelles Wesen zu verändern.
- Versucht stattdessen wahrzunehmen, wie die Kirche bestrebt ist, ihrer liturgischen Botschaft mit dieser neuen und erweiterten liturgischen Sprache größere Wirksamkeit zu verleihen; wie sehr sie bestrebt ist, allen ihren Gläubigen und dem ganzen Leib des Gottesvolkes ihre Botschaft in einer direkteren und pastoraleren Weise näherzubringen.
- In gleicher Weise antworten Wir auf die dritte Frage: Was werden die Erträge dieser Erneuerung sein? Die Erträge, die wir erwarten oder besser erhoffen, sind, daß die Gläubigen an den liturgischen Geheimnissen mit größerem Verständnis teilhaben, in einer Weise, die praktischer ist, die mehr Freude vermittelt, die mehr zu ihrer Heiligung beiträgt. Das heißt, sie werden das Wort Gottes hören, das durch die Jahrhunderte lebt und in unseren Seelen widerhallt, und sie werden ebenso teilhaben an der geheimnisvollen Wirklichkeit des sakramentalen und versöhnenden Opfers Christi.
- Daher lasst uns nicht von der „neuen Messe“ reden. Lasst uns lieber von der „neuen Ära“ im Leben der Kirche sprechen.
Mit unserem Apostolischen Segen.
Kommentar
In den ersten beiden Punkten erkennt Paul VI. zunächst an, daß die neue Form sich „deutlich von dem unterscheidet, woran wir in den letzten 400 Jahren... gewöhnt waren.“ und stellt dann die Frage: Wie konnte es zu einer solchen Änderung kommen und wie wird sie sich auf die Gläubigen auswirken? Der Bezug auf „die letzten 400 Jahre“ läßt freilich außer Acht, daß die Form des alten Missales weitaus tiefer in die Vergangenheit zurückreicht als vier Jahrhunderte. Sie unterscheidet sich in der Gesamtform nur in Details vom Messbuch der römischen Kurie, wie es aus der Zeit um 1220 überliefert ist, und auch dieses hatte bereits eine vielhundertjährige Tradition. Sein Kernbestand, der römische Kanon, reicht bis in die Zeit der frühen Päpste zurück und hat seit dem 5. Jahrhundert nur noch unwesentliche Veränderungen erfahren.
Paul VI. unterschlägt, man muß es so hart formulieren, also ein gutes zusätzliches Jahrtausend, in dem die von ihm „abgeschaffte“ Liturgie das Leben der Kirche bestimmte und Ausdruck ihrer Lehre war. Tatsächlich hat seine Reform die über anderthalb Jahrtausende zurückreichende Tradition des römischen Kanons praktisch abgeschafft: In der liturgischen Praxis der katholischen Kirche Deutschlands kommt der römische Kanon praktisch nicht mehr vor, das offizielle Gebetbuch für die Gläubigen, das „Gotteslob“, enthält in noch nicht einmal mehr in einem Anhang.
Das entspricht durchaus dem Willen des für die Liturgiereform nach dem Konzil eingesetzten „Consiliums“, das sich in den Jahren der Vorbereitung des neuen Missales sogar für die völlige Abschaffung des Canon Romanus und seine Ersetzung durch neu zu formulierende Hochgebete unter Verwendung von Elementen anderer Traditionen eingesetzt hatte. Man muß Paul VI. zugute halten, daß er vor einem Bruch mit der Tradition zurückschreckte: Als „Option“ blieb der Canon Romanus erhalten.
So, wie die oben zitierten 400 Jahre der Tradition des Messbuchs von Trient auf einen eher kreativen Umgang des Papstes mit den historischen Fakten zurückgehen, beruht auch seine in Abschnitt 4 gegebene Antwort auf die Frage, wie es denn zu der einschneidenden Reform kommen konnte, auf einer eigenwilligen Auslegung der tatsächlichen Entwicklung. Daß und inwieweit sie dem Willen des Konzils entspricht, kann mit guten Gründen angezweifelt werden. Die vom Papst zur Begründung und Rechtfertigung angeführte Liturgiekonstitution (Sacrosanctum Concilium) des Konzils ist als praktische Reformanweisung so gut wie wertlos. Sie war ein typisches Kompromissdokument, in dem man für fast jede Aussage eine andere Stelle finden kann, die die erste entweder abschwächt oder sogar in die entgegengesetzte Richtung deutet. Die von Paul VI. hier (Abschnitt 5) ausführlich zitierte Stelle aus SC ist überdies ein gutes Beispiel für die Interpretationsabhängigkeit solcher Dokumente: Was heißt denn „verdoppelt“ oder „weniger glücklich eingefügt“? Was ist denn nur durch die „Ungunst der Zeit“ verlorengegangen oder in einer vom Geist getragenen Entwicklung zu recht überwunden worden? Und was bitteschön heißt „fromme und tätige Teilnahme der Gläubigen“ denn wirklich?
Wo es an der Übereinstimmung im Grundsätzlichen mangelt – und das war auf dem Konzil schon deutlich genug sichtbar geworden – sind derlei Wendungen nur Leerformeln, deren Inhalt im konkreten Fall nach Belieben – oder besser: nach den gerade bestehenden Machtverhältnissen – bestimmt werden kann.
Von daher stellen sich die starken Formulierungen der Abschnitte 6 und 7 quasi von selbst in Frage: Wie kann die Reform Erfüllung eines „autoritativen Auftrags“ sein, wenn der Inhalt des Auftrags unklar ist? Wie kann sie ein „Akt des Zusammenhangs der Kirche mit sich selbst“ sein, wenn sie diesen Zusammenhang im Zentralpunkt des römischen Kanons nur formell wahrt aber praktisch aufgibt? Wie kann das, was in der Praxis zum Bruch mit der Tradition führt, ein weiterer Entwicklungsschritt in authentischer Wahrung dieser Tradition sein? Wobei auch hier Paul VI. wieder zugute zu halten ist, daß er an mehreren Stellen im neuen Messordo darauf bestand, den von den Mitgliedern seines Consiliums abgelehnten Begriff des Opfers beizubehalten. Aber es war und blieb „sein“ Consilium.
Vielleicht hat er ja wirklich geglaubt, was er dann in Punkt 8 zum Abschluß der grundsätzlichen Überlegungen in beschwörendem Ton festhält: „Diese Reform setzt den Unsicherheiten, den Debatten und den willkürlichen Mißbräuchen ein Ende. Sie ruft uns zurück zu der Einheitlichkeit der Riten und der Empfindungen, wie sie der katholischen Kirche zu eigen sind, der Erbin und Fortführerin jener ersten christlichen Gemeinde, die „ein Herz und eine Seele war“.
Es ist immer problematisch, hinter den Worten und Handlungen von Menschen nach den „eigentlichen“ Motiven zu forschen. Das gilt für die Reformer des Consiliums ebenso wie für den Papst, der dessen Mitglieder bestellt hatte. Der Blick in die Herzen ist nur Gott möglich. Aber wir können – eigene Anfälligkeit für Irrtümer vorbehalten – die Fakten wahrnehmen und auch bewerten, und von daher liegt heute, 50 Jahre nach der Ansprache des Papstes auf dem Petersplatz, klar vor Augen, daß er sich hier geirrt hat: Keine Unsicherheit und keine Debatte ist beendet worden, die zeitweise tatsächlich etwas eingedämmten Mißbräuche nehmen in unglaublichem Umfang wieder zu. Von Einheitlichkeit der Riten und Empfindungen in der Kirche kann weniger als je zuvor die Rede sein. Ein verdecktes Schisma, - das freilich nur noch in einem einzigen Punkt verdeckt ist: Es gibt keinen Gegenpapst – bestimmt weltweit die kirchliche Wirklichkeit. Den eigenen Ansprüchen ihres Promulgators – s. Punkte 7 und 8 – nach ist die Liturgiereform komplett gescheitert. Die Ursachen dafür sind ganz wesentlich in den Unklarheiten und auch Unwahrheiten zu sehen, die in den vorausgehenden Punkten zum Ausdruck kommen.
Der zweite Abschnitt unseres Kommentars wird bei Punkt 9 der Papstansprache einsetzen: Wie sehen die Veränderungen im Einzelnen aus.