Bereichsnavigation Themen:

„Unite the Clans“?

Bild: Wikimedia CommonsDie Brevierreform von Pius X. (1911) scheint sich zum Zentrum einer Kontroverse zu entwickeln, die ganz entgegen dem Aufruf von Michael Matt „Unite the Clans“ die traditionstreuen Gemeinschaften gegeneinander in Stellung bringt. Was bisher geschah:

Zur Auflösung der Päpstlichen Kommission Ecclesia Dei im Januar hatte die Piusbruderschaft eine Erklärung veröffentlicht, die nicht nur bei uns Irritationen ausgelöst hat: Zu deutlich war der Unterton von Genugtuung und Rechthaberei gegenüber den bisher von dieser Kommission betreuten Gemeinschaften, deren größte, die Petrusbruderschaft, seinerzeit aus der Piusbruderschaft hervorgegangen ist, weil sie die gegen ausdrücklichen Willen des Papstes vorgenommenen Bischofsweihen nicht mittragen wollte. Die Erklärung der Bruderschaft sah darin ein „Ausbrechen aus der Tradition“, das nur verderbliche Folgen haben könne.

Peter Kwasniewski hatte darauf mit einem Artikel auf New Liturgical Movement  reagiert, in dem er – unter anderem – darauf hinwies, daß einige Symptome der Tendenz zu einem Hintansetzen der Tradition gegenüber aktuellen „pastoralen Erfordernissen“ bereits in besagter Brevierreform (ebenso wie in einigen Maßnahmen oder Texten von Pius XII.) erkennbar werden und man die seitherige Entwicklung daher in einem größeren Gesamtzusammenhang betrachten müsse. Diesen Gesamtzusammenhang stellte auch Bischof Athanasius Schneider ins Zentrum eines Artikels auf Rorate Caeli, und auch er nannte dabei – ohne besonderen Nachdruck – als ein Beispiel die Brevierreform von 1911.

Nachdem Kwasniewskis Artikel in deutscher Übersetzung im ersten Quartalsheft der Una Voce Korrespondenz erschienen ist, bringt das Heft zum zweiten Quartal nun an prominenter Stelle eine fulminante Zurückweisung jedes Versuches, im Zusammenhang mit der Liturgiereform Pauls VI. auch die Reformen der Pius-Päpste zu nennen.

Bevor wir vielleicht zu anderer Gelegenheit versuchen, einen Standpunkt zur Sache selbst zu erarbeiten, hier einige Informationen darüber, was überhaupt Gegenstand und Verfahren der Brevierreform Pius X. gewesen ist.

Das Stundengebet der Kirche, genauer gesagt das Brevier für die Beteiligung der Weltpriester an diesem Stundengebet, leidet seit jeher unter der Schwierigkeit, die Anforderungen des Psalmengebets mit den Ansprüchen eines Tagesablaufs „in der Welt“ zu vereinbaren. Hier geht es weiter Im Zentrum der Schwierigkeiten steht das Problem, die traditionsgemäß in jeder Woche (mindestens) einmal zu betenden 150 Psalmen zum Teil höchst unterschiedlicher Länge so anzuordnen, daß sie a) inhaltlich wo immer möglich in einem sinnvollen Zusammenhang mit der jeweiligen „Stunde“ (=hore) sowie dem (Fest-)Tag stehen und b) von der schieren Masse her den Tagesablauf eines Menschen, der Seelsorge leisten, Termine einhalten usw. muß nicht unerträglich belasten.

Zur Erfüllung der inhaltlichen Anforderungen entwickelte die Tradition seit den frühesten dokumentarisch fassbaren Zeiten den cursus psalmorum, der vielen Psalmen einen festen Platz entweder für bestimmte Tageszeiten oder bestimmte Jahreszeiten und Feste zuwies. Der Rest verteilte sich als lectio continua mehr oder weniger mechanisch auf die Horen. Da z.B. Psalmen des Morgen- und Abendgebetes an jedem Tag fällig werden, steigt damit die Gesamtzahl der wöchentlich zu absolvierenden Psalmen auf etwa 200. Keine geringe Herausforderung.

Im Kloster- oder Eremitenleben, in dem das Stundengebet seinen Anfang nahm, ist das so vorgegebene Pensum relativ leicht erfüllbar. Die Grundregel „Nichts soll dem Gottesdienst vorgezogen werden“ und die Benediktinische Dreiteilung des Tages in 8 Stunden Gebet, 8 Stunden Arbeit und 8 Stunden Schlaf/Erholung geben einen klaren Rahmen. Im Brevier der Weltpriester können hier jedoch schon Schwierigkeiten auftreten.

In der Folge einer weit zurückreichenden unglücklichen Entwicklung, die durch das Brevier von Trient erneut und verbindlich kodifiziert worden war, kam noch ein weiteres Problem hinzu, das den Alltag der Beter noch viel stärker belasten sollte als die schiere Masse der Psalmen. Das Brevier Pius V. bestimmte nämlich, daß an Festtagen nicht die eigentlich nach dem Cursus fälligen Psalmen zu absolvieren waren, sondern die dem Umfang nach kürzeren Sonntagspsalmen. Unter diesen Umständen ist natürlich entscheidend, was als „Festtag“ gewertet wird und wie viele solche Festtage es dementsprechend gibt. Die Ordnung von Trient hatte die Zahl der Festtage und Oktaven reduziert und damit ein möglicherweise zunächst tragbares Verhältnis von Fest- und Ferialtagen hergestellt. Doch innerhalb kurzer Zeit hatte sich dieses Verhältnis durch Aufnahme neuer Feste oder Aufwertung vorhandener so verändert, daß der Kalender um 1900 um die 320 Festtage enthielt. Die Auswirkungen auf das Breviergebet waren dramatisch: Tagaus tagein persolvierten die Beter einen nur in geringem Ausmaß variierenden Grundbestand von Psalmen, währen der größere Teil der Psalmen selten oder nie an die Reihe kam.

Die Behebung dieses schwerwiegenden Mißstandes war die Intention der von Pius X. angeordneten und schließlich promulgierten Neuordnung. Die mit der Durchführung der Reform betrauten Liturgiewissenschaftler setzten bei diesem Vorhaben den Hebel an zwei Stellen an: Zum einen nahmen sie über Eingriffe in die Rubriken eine Neudefinition der „Festtage“ vor, an denen die Sonntagspsalmen Vorrang vor den Tagespsalmen erhalten sollten. Von vorher über 300 blieben weniger als 100 Tage mit Sonntagspsalmen übrig – die Sonntage selbst eingeschlossen. Zum zweiten entwickelten sie zum Ausgleich von dadurch schmerzlich spürbar gewordenen Ungleichgewichten im Tagespensum einen weitgehend neuen cursus, der nicht nur tief in die Zuweisung der Psalmen zu bestimmten Horen und Festen eingriff, sondern auch einige längere Psalmen in handlichen Stücken auf mehrere Horen verteilte. Vom alten cursus psalmorum der römischen und der monastischen Tradition blieb praktisch kein Stein auf dem anderen.

Während die erste Maßnahme der Neudefinition von Festtagen damals wie heute völlig unumstritten ist, sehen Autoren wie Kwasniewski oder Bischof Schneider in der zweiten einen bedeutenden Traditionsbruch, der bereits eine Vorausahnung des „ingenieurtechnischen“ Herangehens der Liturgiereformer der Ära Bugnini erkennen läßt. Verteidiger des neuen Cursus verweisen demgegenüber darauf, daß auch die Ordnung von vor 1911 nur auf einer von mehreren älteren römischen Traditionen beruhte und jedenfalls nicht den ersten Eingriff in einen nur vermeintlich unantastbaren Traditionsbestand darstellte.

Wir sehen uns außerstande, uns in dieser sehr komplexen und ohne tiefgehende Untersuchungen schwerlich zu entscheidenden Frage für die eine oder die andere Antwort zu entscheiden. Dreierlei scheint uns aber auf der Hand zu liegen:

Zum ersten: Der „Zeitgeist der Reformen“ ist sicher nicht mit der Erhebung Papst Pauls VI. 1963 aus einem wolkenlos blauen Himmel gefallen. Bestimmt nicht hinsichtlich des Breviers, bei dessen bereits nach kurzer Zeit wieder zurückgezogenen Neufassung Kardinals Quiñones von 1535 dieser Geist ein erstes Mal machtvoll auf der Bühne erschienen ist.

Es würde zweitens der Ehre des heiligen und nach besten Kräften gegen den Modernismus kämpfenden Papstes Pius X. keinen Abbruch tun, wenn sich herausstellte, daß dieser Zeitgeist auch auf einige von dessen heroischen Bemühungen zu Reform und Stabilisierung der vom Modernismus bedrohten Kirche nicht ohne Auswirkungen geblieben wäre.

Und drittens erscheint uns diese Frage gänzlich ungeeignet als Streitpunkt im Verhältnis zwischen den Kräften der Tradition in einer Zeit, in der die Kirche ihre tiefste Krise seit den arianischen Wirren der Spätantike durchlebt.

Zusätzliche Informationen