Die Häresie der Formlosigkeit
Aus dem Kapitel: „Liturgie - die gelebte Religion“
Die aktuelle deutsche Ausgabe
Vielleicht der schlimmste Schaden der Meßreform Papst Pauls Vl. und der durch sie eingeleiteten, die Reform längst „überwunden“ habenden Entwicklung, der größte geistliche Verlust ist dies: daß wir nun über die Liturgie sprechen müssen. Auch wer die Liturgie bewahren will, auch wer in ihrem Geist beten will, auch wer ihr unter den größten Opfern treu bleibt, hat bereits etwas Unschätzbares verloren: die Unschuld, sie als etwas Gottgegebenes von oben aus dem Himmel den Menschen Geschenktes hinzunehmen.
Als Verteidiger der großen, der heiligen Liturgie, der klassischen römischen Liturgie sind wir alle große oder kleine Liturgietwissenschaftler geworden. Die wissenschaftliche, archäologische und historische Verbrämung der Reform hat uns gezwungen, diese Argumentationen zu widerlegen und uns damit zu einer Beschäftigung mit Ritus und Liturgie geführt, die dem religiösen Menschen zutiefst widerstreben muß. Wir haben uns zu einer Art scholastisch-juristischem Denken bei der Betrachtung der Liturgie verführen lassen: was ist unbedingt erforderlich, damit noch von Liturgie gesprochen werden kann? Welche Willkür ist noch tolerabel, was aber darf nicht mehr hingenommen werden? Wir haben uns daran gewöhnt, Minimalerfordernisse als Kategorie der Bewertung der Liturgie zu akzeptieren, wo es doch überhaupt nur um das Maximale gehen kann.
Wir haben schließlich begonnen, Liturgie zu bewerten - ein ungeheuerlicher Vorgang! Wir haben in den Kirchenbänken gesessen und uns gefragt: war das jetzt eine Heilige Messe, oder war das jetzt keine Heilige Messe? Ich betrete die Kirche, um Gott zu sehen, und ich verlasse sie wie ein Theaterkritiker. Und wenn wir dann hin und wieder eine Heilige Messe feiern dürfen, die uns die große historische und religiöse Katastrophe, die grundsätzliche Beschädigung der Brücke des Menschen zu Gott für ihre Dauer vergessen läßt, dann wissen wir doch immer, was für Leistungen erforderlich waren, um eine solche Heilige Messe stattfinden zu lassen, wieviele Briefe dahinterstehen, wieviele Opfer dies Heilige Opfer möglich gemacht haben, um darin unter anderem auch für einen Bischof zu beten, der dies Gebet überhaupt nicht wünscht, der gern bereit ist, auf die Nennung seines Namens im Kanon zu verzichten. Ein verschwiegenes religiöses Leben, Tage, die mit einer stillen Messe in einer unauffälligen kleinen Kirche in der Nähe beginnen, ein Leben, in dem wir, diskret von Priestern angeleitet, in Jahrzehnten lernen, die eigenen Opfer mit dem Opfer Christi zu verschmelzen, in dem wir uns in der Heiligen Messe mit unseren eigenen Sünden und den uns gewährten Gnaden befassen und zwar mit nichts sonst - das ist einem Katholiken nach der Zerstörung der Selbstverständlichkeit der Liturgie nicht mehr möglich.
Man könnte mir entgegenhalten, daß ich übertreibe; man könnte mir nun vorhalten, daß trotz aller Verwüstung des Kultes die Lehre der Kirche über das Opfermysterium unangetastet sei. Schon Papst Paul VI., der Reformator selbst, habe den sakralen Opfercharakter der Heiligen Messe erneut bestätigt; sein Nachfolger Papst Johannes Paul II. habe das gleiche getan und der neue Katechismus enthalte die unverkürzte Lehre über die Liturgie, wie sie der Tradition der Kirche entspreche. Das ist richtig; was das oberste Lehramt über die Heilige Messe sagt, ist altes katholisches Glaubensgut. Daß der Katechismus erscheinen konnte, daß er trotz der zahllosen Kompromisse in der Formulierung, trotz wolkiger Lyrismen, die sich über die neuralgischen Punkte schieben, eine Sammlung überlieferter katholischer Glaubenslehre geworden ist, kann man in unserer Zeit geradezu als ein Wunder ansehen. Man muß sich etwas weniger schämen, Katholik zu sein, seitdem diese Sammlung erschienen ist. Aber was bedeutet sie für den Alltag und den Festtag unserer Kirche?
Zar Nikolaus I. der strenge Zensurvorschriften einführte, nahm Bücher, die über tausend Seiten lang seien, von der Zensurpflicht ausdrücklich aus: solche Werke würden ohnehin von niemandem gelesen. Ich möchte aber gar nicht auf die unbestreitbare Tatsache hinaus, daß der neue Katechismus ein Werk ist, das in unseren Priesterseminaren allenfalls zu Zwecken der Belustigung einmal durchgeschaut wird. Ich bin kein Theologe und kein Kanonist; ich muß als Schriftsteller die Welt aus einem anderen Winkel betrachten. Wenn ich wissen möchte, was einer glaubt, dann hilft es mir nicht, in seiner Vereinssatzung, verzeihen Sie den Ausdruck, nachzuschauen. Ich muß mir den Menschen ansehen, seine Gebärden, seine Blicke, seine unbeobachteten Momente. Erlauben Sie mir bitte, Ihnen dazu ein Beispiel zu nennen.
Die englische Ausgabe
In Frankfurt wurde die Heilige Messe nach dem alten Ritus seit dem päpstlichen Indult von 1984 in einer kleinen, ungewöhnlich häßlichen Kapelle im zweiten Stock eines zum Hotel gewordenen Kolpinghauses gefeiert. Schreckliche Kirchenkunst schmückte diesen Raum: eine Betonmadonna als Kykladensymbol und ein Kruzifix aus rotem, wie Himbeergelee schimmerndem Glasfluß waren die heiligen Bilder, denen die Ehre der Inzensation zuteil wurde. Man konnte jedenfalls niemandem zum Vorwurf machen, er begebe sich aus snobistischem Ästhetizismus in diese Kapelle; diese wohlfeile, sonst so häufig erhobene Beschuldigung blieb dem Frankfurter Kreis erspart. Die Laien, die sich dort zusammenfanden, wußten wenig, was alles bei den Vorbereitungen zu beachten war, sie kannten keine Sakristeienbräuche und wuchsen erst langsam in die notwendigen Kenntnisse hinein.
Ein Kreis von Frauen, die die Gewohnheit hatten, zusammen zu beten, begannen sich dann um die Altarwäsche zu kümmern; von diesen Frauen will ich Ihnen erzählen. Eines Tages fragten sie den Verwalter der Kapelle, was eigentlich mit den gebrauchten Purificatoria geschehe, den Kelchtüchern, mit denen der Priester die restlichen Tropfen des gewandelten Weins aus dem Kelch aufsaugt. Die kämen mit der anderen Wäsche in die Waschmaschine, sagte der Verwalter. Die Frauen brachten zur nächsten Messe ein Säckchen mit, das sie genäht hatten. Dann baten sie um das gebrauchte Purificatorium und taten es in das Säckchen. Was sie damit machen wollten? „Das ist doch mit dem Kostbaren Blut getränkt, das darf man doch nicht in den Ausguß gießen."
Daß die Kirche früher vorgeschrieben hatte, daß der Priester selbst das erste Auswaschen des Purificatorium zu besorgen habe, daß das Waschwasser danach in das Sakrarium oder in Erde zu gießen sei, das wußten diese Frauen. gar nicht. Aber sie wehrten sich dagegen, daß man diese Tüchlein wie andere Wäsche behandelte und taten instinktiv, was eine alte, nunmehr mißachtete Vorschrift verlangte. „Das ist wie dem Jesuskind die Windel waschen", sagte eine dieser Frauen. Ich wurde verlegen, als ich das hörte. Die Volksfrömmigkeit wurde da doch etwas zu konkret. Ich sah sie, wie sie da zu Hause wusch, nachdem sie vorher einen Rosenkranz gebetet hatte. Das Waschwasser brachte sie in den Vorgarten und goß es in eine Ecke, wo besonders schöne Blumen wuchsen.
Am Abend deckte sie dann den Altar in der Kapelle mit einer anderen Frau. Das Adjustieren des langen schmalen Leintuchs war schwierig. Beide Frauen waren sehr konzentriert, zugleich aber mit einer unterdrückten Sorge, als pflegten sie nüchtern und effizient einen Menschen, den sie liebten. Ich habe diesen Vorbereitungen mit wachsender Neugier zugesehen. Was war das? In allen Berichten der Auferstehung ist von den gefalteten Tüchern die Rede - „angelicos testes, sudarium et vestes", wie es in der Ostersequenz heißt. Kein Zweifel, diese Frauen in der häßlichen Kapelle im zweiten Stock waren die Frauen am Grab. Sie lebten in der beständigen unbezweifelten real erlebten Gegenwart Jesu. In dieser Gegenwart verhielten sie sich natürlich - entsprechend ihrer Herkunft und ihrem Bildungsstand. Ihr Leben war Anbetung, die in sehr präzise, sehr praktische Handlungen übersetzt war - Liturgie. Wenn ich diese Frauen beobachtete, dann wußte ich, daß sie an die wirkliche Gegenwart Jesu im Altarsakrament glaubten. Das ist Glaube: was wir selbstverständlich tun.
Und wie sieht diese Selbstverständlichkeit in einer beliebigen Großstadtkirche aus? Kaum einer kniet bei der Wandlung, oft genug macht nicht einmal der Priester eine Kniebeuge vor den gewandelten Gaben. Die Hostien für die Gemeinde holt eine Dame aus einem seitlich angebrachten goldenen Schränkchen, geschäftig und sicher, als entnehme sie dem Arzneimittelschränkchen ein Medikament. Die Hostien legt sie den Kommunionempfängern in die Hand; keiner erweist ihnen die Reverenz einer Kniebeuge oder einer Verneigung.
Die viel geschmähten und verdächtigten Ästheten verfügen über eine schreckliche Gabe: die äußere Gestalt einer Sache, eines Vorgangs, eines Gedankens enthüllt ihnen mit Sicherheit die innere Wahrheit des Angeschauten. Ich habe oft genug mit frommen Apologeten über den geschilderten, überall in der Welt zu sehenden Vorgang gesprochen. Die Geistlichen waren peinlich berührt, aber sie wollten keinen geistlichen Verlust eingestehen. Das Knien sei mittelalterlich, sagten sie. Die Urchristen hätten stehend gebetet. Stehen bedeute den Auferstandenen Christus, sei die dem Christen angemessenste Haltung. Die Urchristen hätten die Kommunion auch mit der Hand empfangen. Was denn ehrfurchtslos daran sei, wenn die Gläubigen „einen Thron“ für die Hostie aus ihren Händen formten? Ich billige den Leuten, die mir so etwas erzählen, zu, daß sie es ernst meinen. Aber es wird eine bei Seelsorgern kaum zu fassende Weltfremdheit und die Untauglichkeit wissenschaftlicher Argumente in liturgischen Fragen sehr deutlich sichtbar.
Diese Wissenschaftler haben es immer nur mit der Geschichtlichkeit des Glaubensgutes und der Verehrungsformen. Kerneinsicht des Geschichtsdenkens muß hier aber sein: was in der einen Epoche Ausdruck der Verehrung ist, kann in einer anderen Epoche Ausdruck der Blasphemie sein. Nachdem sie tausend Jahre lang auf den Knien gelegen haben, erheben sich die Leute doch nicht in der Einsicht, die Urchristen hätten bei der Wandlung gestanden und man kehre nun zu dieser besonders authentischen Andachtsform zurück. Sie stehen vielmehr auf, klopfen sich den Staub von den Hosenbeinen und denken: Es ist wohl alles nicht so ernst gemeint. Jede Bewegung in solchen Kultfeiern spricht dieses: Ganz so ernst ist das alles nicht gemeint. Es ist anthropologisch vollkommen ausgeschlossen, daß unter solchen Umständen der kirchlich noch immer verkündigte und vielleicht mit Worten auch von Teilnehmern solcher Feiern gelegentlich noch bestätigte Glauben an die Gegenwart Christi im Sakrament irgendeine tiefere seelische Bedeutung besitzt.
Wir entnehmen diesen Abschnitt dem Kapitel „Liturgie - Die gelebte Religion“ in der 2. Auflage, die 2003 beim Karolinger-Verlag Wien erschienen ist. Die aktuelle Ausgabe wird vom Hanser-Verlag herausgegeben.