Wie viele römische Riten gibt es?
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- 08. Dezember 2022
Der von Oktober bis November im Church Life Journal der Notre Dame University in fünf Folgen erschienene Artikel der Professoren Cavidini, Healy und Weinandy zur Unterstützung und Verteidigung von Traditionis Custodes wird in den USA nach wie vor intensiv diskutiert. Er ist jetzt auch als zusammenhängender Text erschienen, was Lektüre und Diskussion deutlich erleichtert. Die Wirkung des Artikel beruht weniger auf inhaltlichen Qualitäten – die sind selbst mit der Lupe kaum aufzufinden. Sie beruht auf dem schieren Umfang und der Tatsache, daß der Artikel erstmals eine Art Gesamtbild der Positionen der Befürworter der Liturgiereform Pauls IV und Annibale Bugninis entwirft und sich rückhaltlos hinter den Versuch von Franziskus stellt, die liturgische Tradition auszulöschen.
Das Bild, das die drei Autoren da zeichnen, ist völlig unbeeindruckt ist von den enormen Rückschlägen in der pastoralen Praxis, die die Kirche seit Durchsetzung des Novus Ordo hinnehmen mußte; ein Bild, das sich ausschließlich an den proklamierten Zielen der Reformvertreter orientiert und an keiner Stelle von der Überlegung getrübt ist, ob die proklamierten Ziele überhaupt mit den eingesetzten Mitteln erreichbar wären. Letztlich ein Phantasiebild, das keiner Beachtung wert wäre – wenn es nicht allzu exakt den Phantasien und Phobien des gegenwärtigen Papstes entsprechen würde, der die endgültige Durchsetzung der Reform von 1969 offenbar zu einem der Hauptziele seiner Politik gemacht hat.
Eric Sammons vom Crisis-Magazine hat jetzt ein über einstündiges Video-Interview mit Peter Kwasniewski gemacht, in dem die beiden Traditionsvertreter dem Rundumschlag der drei Notre-Dame-Autoren ein mehr den Realitäten entsprechendes Bild vom Kampfplatz – so muß man es wohl nennen – Liturgie und Tradition entgegenstellen. Wir referieren oder übersetzen daraus einige besonders lesenswerte Abschnitte, die freilich die Lektüre des Gesamttextes – Crisis Magazine hat dankenswerterweise dem Video ein vollständiges Transskript zur Seite gestellt – nicht ersetzen können.
Einen sonst selten behandelten Aspekt behandelt das Interview in einer Passage über die „Gesetze“ der „organischen Entwicklung“, die als wesentliches Kennzeichen und gleichzeitig grundlegendes Erfordernis aller Entwicklungen in der Liturgie gilt. Kwasniewski macht darauf aufmerksam, daß bei Gegenständen, die ohne direktes Vorbild oder Muster neu in die Welt kommen, die organische Entwicklung einem bestimmten Modell folgt: In der ersten Periode – die für die Liturgie wegen des großen zeitlichen Abstandes und der Verfolgungssituation nur undeutlich sichtbar ist – gibt es viele zum Teil auch sprunghafte und später wieder eingestellte Ansätze, die freilich meistens nur insoweit erfolgreich sind, wie sie sich auf bereits vorhandenes stützen können. Bald erfolgt jedoch eine Konzentration auf eine oder einige klar unterscheidbare Entwicklungslinien, und schließlich verringert sich das Tempo der Neuerungen – die beharrenden Elemente gewinnen an Gewicht. Als Kurve dargestellt: In den ersten 4 – 5 Jahrhunderten ein ziemlich starker Anstieg, dann allmählich abflachend die Annäherung an einen Sättigungspunkt, der etwa zu Ende des 1. Jahrtausends erreicht wird. Danach nur noch kleine Schritte – die Kurve verläuft fast waagerecht. Im Fall der römischen Liturgie wird diese Entwicklungslinie durch Trient nicht gestört, sondern bekräftigt: Wo es in den vorhergehenden beiden Jahrhunderten tatsächlich Störungen und Abweichungen gegeben hatte, werden diese untersucht und ausgemerzt – nach der Revision der liturgischen Bücher durch Pius V. und seine Berater geht die Entwicklungslinie geglättet weiter, sie sie vorher angelegt war.
Dieses Entwicklungsprinzip wird vom II. Vatikanischen Konzil in Sacrosanctum Concilium weitgehend bekräftigt, aber Bugninis Consilium hat sich darüber hinweggesetzt und – mit Unterstützung des damaligen Papstes – buchstäblichen in allen Bereichen neue Anfänge gesetzt. Mit der nur für hartgesottene Ideologen unerwarteten Folge, das eine Mehrheit der Gläubigen ihre Kirche und ihren Gottesdienst nicht mehr wiedererkannte. In der Entwicklungsline ist ein unheilvoller Knick entstanden, von dem niemand weiß, wie er wieder geglättet werden könnte. In diesem Zusammenhang bringt Kwasniewski ein sehr treffendes Argument gegen jene Schwarmgeister, die alles, was ihnen durch den Kopf geht, für eine Eingebung des Heiligen Geistes ausgeben.: „Ich möchte gerne einen Punkt herausstellen, einen sehr wichtigen Punkt, nämlich daß der Heilige Geist ebenso dafür wirkt, die Dinge, die Gott uns gegeben hat, zu erhalten, wie er daran wirkt, Neues zu schaffen. Wie zum Beispiel – ich gestatte mir eine kleine Abschweifung – beim ganzen synodalen Prozess, wo man sich ständig auf den Heiligen Geist beruft, auch wenn da vielleicht ganz andere Geister am Werk sind. Wie Martin Mosebach sagt: Das ist schon ein Geist, bestimmt. Aber es ist kein Heiliger Geist. Ständig rufen sie den Geist zum Zeugen an, um Erfindungen und Neuerungen zu rechtfertigen. Als ob sie sagen wollten: Der Geist wirkt nur dann, wenn es etwas Neues gibt. Nun, es tut mir leid, aber das ist komplett gegen die ganze Mentalität des Judentums und des Christentums von Anfang. Im Judentum gibt Gott dem Volk das, was es braucht: Hier habt ihr das Gesetz; so ist euer Gottesdienst aus. Haltet euch genau daran. Wenn nicht, geht ihr ins Exil oder werdet zerstört. Er gibt es ihnen, und sie müssen es annehmen und bewahren… (… Im neuen Bund ist es genauso.) Die hl. Messe, die Sakramente, das Moralgesetz, unser Angewiesen sein auf die Gnade – das alles wird sich niemals ändern.
In einem folgenden Abschnitt wendet sich das Gespräch dann den protestantischen „Reformen“ zu, die Versucht haben, das Wesen des der Kirche Anvertrauten Erbes zu ändern – und denen die Reformer nach Vatikan II allzu bereitwillig gefolgt sind. Ein weiteres Unterthema ist die Rolle und Aufgabe des Papstes in liturgischen dingen. Kwasniewski macht auf einen bislang wenig beachteten Sachverhalt aufmerksam: Für an die 1500 Jahre feierten die Katholische Kirche und die Kirchen des Ostens ihre Gottesdienste nach überlieferten Riten, die niemals von einem Papst „genehmigt“ worden waren. Sie haben keine päpstliche Genehmigung, der Papst hat damit nichts zu tun. Wir feiern unsere Gottesdienste so, wie wir es immer getan haben.Und warum hat Pius V. sich 1570 dann so mit seinem „Quo Primum“ so entschieden eingemischt? Ganz einfach deshalb, weil am Vorabend der Reformation im 15. und dem frühen 16. Jahrhundert in der Liturgie eine chaotische Lage entstanden war. Da waren schon häretische Proto-Protestanten und protestantische Häretiker am Werk, Veränderungen am öffentlichen Gebet der Kirche vorzunehmen. Messbücher wurden in Richtung irriger Vorstellungen verändert. Es gab vielerlei Abweichungen lokaler Art, durch Fehler von Kopisten hatten sich Irrtümer eingeschlichen usw. (…) All das zeigte, daß ein zentraler Eingriff erforderlich oder zumindest gerechtfertigt war, um die Kirche gegen die protestantische Revolte zusammenzuschließen. Das war im Grunde die eigentliche Motivation für Pius V. und für das Konzil von Trient überhaupt.
„Es ist ja nicht so, als ob Pius V. In Quo Primum sagen würde: ;Ok, Jungs und Mädels, es ist Zeit für eine neue Liturgie. Wir haben ein Komitee einberufen, und wir haben eine neue Liturgie gemacht. Hier ist sie. Alle sind daran gebunden. Wenn sie ihnen nicht gefällt – schluckt’s runter’. Nein, ganz und gar nicht. Er sagt: Wir haben die Manuskripte des Römischen Ritus, den wir ererbt haben, sorgfältig geprüft. Soweit es dort Probleme mit dem Text gab, haben wir sie korrigiert. Aber in anderen Worten: Wir haben den Ritus wieder so hergestellt, wie es der päpstliche Hof seit Jahrhunderten gehalten hat. Was wir euch jetzt geben, ist ganz und gar traditionell und man kann sich völlig darauf verlassen. Und wenn eure Ortsliturgie nicht älter als 200 Jahre ist, dann müsst ihr das Römische Messbuch, das ich hier in Kraft setze, übernehmen. Aber wenn sie älter als 200 Jahre ist, dann könnt ihr sie behalten, und dürft nur dann davon weggehen, wenn der Bischof und das Kapitel einmütig zustimmen.‘
Lassen Sie uns einen Moment darüber nachdenken. Jeder weiß, wie schwierig es ist, eine Gruppe meinsungsstarker Leute wie Domkanoniker und Bischof dazu zu bringen, Einmütigkeit in irgend einer Sache zu erreichen. Pius V. Wollte es also erschweren, die alten Lokalriten aufzugeben. Er wollte keinesfalls den Römischen Ritus einseitig allen aufzwingen. Und warum 200 Jahre. Nun, das ist ganz einfach , wenn man von 1570 aus 200 Jahre zurück geht, kommt man zu 1370. Und das ist so etwa die Zeit, in der die Gärung der protestantischen Irrtümer in Europa einsetzte. Er sucht also ein Fenster der Gelegenheit. Und was älter als 200 Jahre ist, muß schon allein deshalb katholisch sein, weil es alt ist. Das steht so sehr im Widerspruch zu unserer modernen Mentalität. Heute neigen Katholiken dazu, etwas für zweifelsfrei katholisch zu halten, weil der Papst vor einer Stunde gesagt hat, es wäre katholisch. Das ist völlig sinnlos. Je älter etwas ist und je größer und weiter verbreitet die Zustimmung, desto katholischer ist es.“
Der Sachverhalt, den Kwasniewski meint, ist natürlich schon öfter ausgesprochen worden, aber vielleicht noch nie so kindgerecht und in einfacher Sprache. Das sollte selbst ein Amtsleiter wie Arthur Roche verstehen, und sein Chef auch. Das Problem ist: Sie wissen es natürlich – aber sie wollen weg von dem, was katholisch ist, und dazu streuen sie uns Sand in die Augen.
Weitere Themenbereiche, auf die Sammons und Kwasniewski in ihrem Gespräch eingehen, sind die Motive und Stärken der Liturgischen Bewegung, die nach wertvollen Anfängen zwei Jahrzehnte vor dem ersten Weltkrieg schon zu Beginn von WK II weitgehend in die Hände von Modernisten gefallen war. Und auch hier gelingt ihm eine bemerkenswerte Perspektive: „Wenn man Autoren wie Schuster, Parsch oder Guardini liest, entdeckt man wunderbare Dinge, sehr erhellen. Und sie lassen einen wirklich den Wert der römischen Liturgie erkennen. Aber ihr Werk ist hinsichtlich des Novus Ordo völlig nutzlos – da passt nichts mehr zusammen. Und dann sind da immer wieder so gewisse Merkwürdigkeiten. Wie zum Beispiel, daß Guardini bereits in den 20er Jahren mit der Messe „versus populum“ experimentierte. Warum? Weil alle Experten der Liturgischen Bewegung unter dem unzutreffenden Eindruck standen, die frühen Christen hätten versus populum zelebriert. Inzwischen wissen wir, daß das nicht richtig ist. Die Arbeiten von Uwe Michael Lang und Stefan Heid haben dem jede Grundlage entzogen.“
Im weiteren geht Kwasniewski dann auf die „Janusgesichtigkeit“ von Pius XII. Ein, der auf der einen Seite die überlieferte Lehre zur Liturgie durchaus verteidigte – andererseits aber den Umstürzlern weiten Spielraum gewährte. Und Paul VI., so schließt Kwasniewski diesen Teil seiner Ausführungen, übertraf die Umstürzler dann noch an Radikalität.
Auf den zweiten Teil des Interviews, der sich hauptsächlich mit der Artikelserie von Cavadini, Healy und Weinandy befasst, werden wir in diesem Zusammenhang ausführlicher eingehen müssen.
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Inzwischen ist auch der vielbeachtete Vortrag von Peter Kwasniewski vom Oktober bei der Paix Liturgique-Tagung in Rom auf Deutsch erschienen - und das gleich in zwei Übersetzungen:
Von C. V. Oldendorf auf Kathnews.de und von
Monika Rheinschmitt auf ProMissaTridentina