Nur eine Sache der Atmosphäre?
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- 18. März 2015
Einer der hauptsächlichen Kritikpunkte an der reformierten Liturgie beruht auf dem Vorwurf, diese Liturgie stellle zumindest in ihrem praktischen Vollzug das horizontale Element, die versammelte Gemeinde und deren soziale Dynamik, über das vertikale Element, also die Hinordnung jedes Einzelnen und damit auch der Versammlung insgesamt zur Verherrlichung Gottes und auf das Gnadenhandeln des Erlösers an den Menschen, das von jedem Einzelnen aufgenommen und beantwortet werden muß.
Die Plausibilität dieser Kritik wurde in den vergangenen Tagen - nicht zum ersten Mal - durch Worte aus dem Mund des Papstes selbst bestätigt. In einem Interview mit dem mexikanischen Fernsehen (hier ein Kurzbericht) pries Franziskus die Atmosphäre der Nähe, von der aus evangelikalen Gottesdiensten berichtet wird:„Sie gehen einmal bei ihnen zum Gottesdienst, und am Sonntag darauf warten sie an der Tür auf Sie, kennen Ihren Namen und begrüßen Sie“ In römisch-katholischen Kirchengemeinden gehe es dagegen vielfach sehr distanziert zu. Attraktiv für Außenstehende seien offenbar auch die guten und biblischen Predigten in vielen evangelikalen Gruppen, so Franziskus. Manche katholische Auslegungen seien hingegen ein „Desaster". Sie erreichten nicht das Herz der Zuhörer: „Es sind Theologiestunden oder abstrakte, lange Sachen.“ Freilich gebe es auch bei den Evangelikalen weniger gelungene Ansätze. Ausdrücklich kritisierte er Strömungen, die ein Wohlstandsevangelium verkündeten. Das sei sektiererisch und unbiblisch.
Der Unterschied im Atmosphärischen zwischen evangelikalen Gottesdiensten und der hl. Messe mag manchmal sehr auffällig sein - das Wesen der Sache selbst bringt er nicht ausreichend zum Ausdruck. In der heiligen Messe - auch wenn sie in nordeuropäisch-zurückhaltender Atmosphäre stattfindet und von einer vielleicht etwas steifen Glaubensverkündigungspredigt begleitet werden sollte - erfahren wir in der Vergegenwärtigung des Erlösungsopfers, in Wandlung und Kommunion unmittelbar das sakramentale Handeln Gottes an den Menschen, an jedem Einzelnen selbst, das weit über alles hinausgeht, das die Gemeinde aus sich heraus oder aus einer mitreißenden Predigt zu bewerkstelligen vermag. Und genau dieses Wesentliche - im Marketing würde man von einem „Alleinstellungsmerkmal“ sprechen - scheint dem Papst (oder denen, die den Bericht verfasst haben) in diesem Interview nicht der Rede wert zu sein.
Der Charakter des Gottesdienstes als Feier der Gemeinschaft mag in den Jahrhunderten zwischen Beginn der Neuzeit und der vollen Ausprägung der Moderne etwas in den Hintegrund getreten zu sein. Wenn die Reformen des 20. Jahrhunderts in der Gegenbewegung jetzt dazu geführt haben sollten, diesen Gemeinschaftscharakter vor allem anderen in den Vordergrund zu stellen, sind sie trotz aller Kraftanstrengung rettungslos gescheitert.