Die Hirten von Bethlehem
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- 23. Dezember 2019
Die „Hirten auf dem Felde“ sind zwar nur im Lukasevangelium erwähnt, aber dort spielen sie eine überaus prominente Rolle:
In dieser Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. Da trat ein Engel des Herrn zu ihnen und die Herrlichkeit des Herrn umstrahlte sie und sie fürchteten sich sehr... (Lukas 2, 9-20; vollständig in der ersten und zweiten Messe vom Weihnachtstag.)
Vom Bild des Engels vor den Hirten über den himmlischen Gesang des Gloria bis zum Besuch an der Krippe – das gläubige Volk liebt diese Szenen. Kein Bild von der Geburt Christi im Stall kommt ohne ein paar Hirten samt Schafen aus, natürlich auch keine einigermaßen anspruchsvolle Weihnachtskrippe. Als es an Grundschulen und Kindergärten noch „Krippenspiele“ gab, erfüllten die Hirten eine überaus wichtige Funktion: Maria und Joseph gab es nur einmal, Engel mit langen und womöglich goldenem Haar – das war was für brave Mädchen, aber als „Hírten“ konnten auch so viele Jungen mitspielen, wie sie nur wollten – ganz, ohne sich allzu viel zu verkleiden oder zu verstellen, und singen mußten sie auch nicht.
Die moderne Pastoral liebt die Verkündigung an die Hirten – ihr gelten die Männer von den Schafhürden als Zeichen dafür, daß die Frohe Botschaft zuerst den Armen und Kleinen verkündet wird, den Unbehausten, die schon aus Not riechen wie die Schafe riechen.
Evangelium im Klassenkampf, wenn man es denn so lesen will.
Es kann aber auch alles ganz anders gewesen sein, damals vor über 2000 Jahren, als in den Herbergen von Bethlehem kein Platz mehr war und der aus Nazareth zur Registrierung in die Stammstadt zurückgekehrte Joseph aus dem Hause Davids mit seiner Maria auf ein Stallquartier ausweichen mußte. Wo dieses Stallquartier genau war, ist unbekannt – wie so oft im Heiligen Land erheben mehrere Plätze Anspruch auf den Titel. In der Regel legen diese Plätze nahe beieinander – die alte Überlieferung ist zwar nicht präzise, mit den Jahrhunderten verschieben sich die Erinnerungen schon einmal um ein paar hundert Meter, aber die heutige Geburtskirche östlich des alten Zentrums von Bethlehem markiert seit dem 5. Jahrhundert eine durchaus mögliche Stelle.
Noch einmal vielleicht ein Kilometer weiter östlich beginnt eine kleine Ebene, die nach alter Überlieferung als „die Hirtenfelder“ (Siyar el ghanam) bekannt ist. Ungefähr in der Mitte liegt das griechisch-orthodoxe „Kloster auf dem Hirtenfeld“, 400 Meter nördlich davon am Rand der ebenen Fläche die „Kirche des Gloria in Excelsis“ der Franziskaner. Beide Bauwerke sind neuzeitlich bis modern; aber sie ruhen auf Fundamenten von Vorgängerbauten, die bis in die byzantinische Zeit (5. Jh.) reichen.
Der Name „Hirtenfelder“ geht sogar auf eine noch viel weiter in die Vergangenheit reichende Tradition zurück: Das griechische Kloster behauptet, unter seinen Fundamenten lägen die Überreste des Migdal Eder, des „Turms der Herde“(Jakobs), der in Genesis 35,21 erwähnt wird und von dem gesagt wird, daß er „auf dem Weg nach Bethlehem“ liege. Auch David soll dort die Herden seines Vaters geweidet haben (1. Sam. 17), bevor der Herr ihn zum König Israels berief.
Diese Namenstraditionen deuten darauf hin, daß wir es hier mit einem seit langer Zeit für die Schafweide genutzten Stück Land zu tun haben, und das ist etwas für Israel ganz und gar Außerordentliches: Auf ebenen Land, von dem es wenig genug gab, betrieb man wo immer es ging Ackerbau: Getreide, Wein, essbare Kräuter. Schafe und Ziegen waren auf die meist steinigen Hügel verwiesen, auf denen sie das Gras zupften, das sich zwischen den Olivenbäumen und den noch reichlicher vertretenen Dornenbüschen hervorwagte. Die Schafweide auf den Hirtenfeldern, bewacht und versorgt von einem „Turm der Herde“ aus, war also etwas ganz besonderes.
Wie besonders, ja sogar einzigartig, diese Weide war, ergibt sich – nach dem Zeugnis von Leuten, die mit diesen Texten umgehen können – aus lange nach der Zeit Christi entstandenen Schriften des Talmud und der Midraschim, in denen die Rabbis der Diaspora alles sammelten, was ihnen nach der Zerstörung des Tempels und Zerstreuung unter die Völker geblieben war.
Die Opfervorschriften des alten Bundes hatten großen Wert darauf gelegt, daß die Opfertiere für den Tempel kultisch rein und physisch makellos zu sein hatten. Kein Schatten eines heidnischen Tempel sollte sie befleckt, kein körperlicher Mangel durfte sie verunstaltet haben. Als bevorzugten Ort für die Herkunft von Opfertieren benennt eine der talmudischen Schriften die Region südlich der Tore Jerusalems bis nach Bethlehem, und nennt dabei ausdrücklich den (damals wohl längst nicht mehr bestehenden) Turm der Herde. Das ist eine Strecke von um die 8 Kilometer, viel Grünland, aber bei weitem nicht nur.
Eine andere dieser späten Schriften (Tieropfer gab es seit der Zerstörung des Tempels durch Titus schon seit Jahrhunderten nicht mehr) weiß höchst bemerkenswertes zu berichten über die „Hirten“, die mit der Aufzucht von Schafen und Ziegen für den Tempel beauftragt waren. Dabei handelte es sich nach Lage der Dinge sicher nicht um grobe Kerle, gar „Mietlinge“ im alltäglichen Sinne. Sie waren zweifellos Angehörige des Stammes und Standes der Leviten, die im Auftrag des Tempels Opferlämmer züchteten, pflegten und ihre kultische Eignung sicherstellten. Dabei ging ihre Sorgfalt so weit, daß sie neugeborene Lämmer wie neugeborene Kinder in Wickelbänder (das ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Windel“, die im Zeichen der Pampers längst vergessen worden ist) einwickelten, damit sie sich bei ersten Gehversuchen nicht die Beine brachen. Jeder, der schon einmal gesehen hat, wie staksig sich frischgeborene Lämmer auf ihren viel zu langen und viel zu dünnen Beinen bewegen, wird diese Vorsicht verstehen - selbst wenn die Vorstellung eines „Wickellammes“ heute noch befremdlicher erscheint als ein Wickelkind.
Opferlämmer in Wickeltüchern - und ein Kind in der Krippe! Und Schafställe quasi als Vorhöfe des Tempels!
Das alles fügt sich zusammen zu einem grandiosen Bild von der Heiligen Nacht, das die üblichen Krippendarstellungen weit übersteigt und eine sonst erst viel später erkennbar werdende Dimension im Heilsplan sichtbar macht: Jesus, Mariens Kind und rechtlich Sohn Josephs aus dem Hause David, geboren zum Erlöser der gefallenen Menschheit durch sein Opfer am Kreuz, kommt zur Welt auf dem Hirtenfeld von Bethlehem, wo seit Jahrhunderten die Opferlämmer für den Tempel von Jerusalem aufgezogen werden. Und die Ersten, die davon erfahren, sind die Diener und Beamten des Tempels, die dort für die Bereitstellung der makellosen Opfer auf dem Altar zuständig waren.
Eher als vielen anderen Kennern der Schrift dürfte diesen Leviten vom Hirtenfeld die Weissagung des Propheten Micha geläufig gewesen sein: „Und du, Turm der Herde, du Hügel der Tochter Zion, zu dir wird gelangen und zu dir wird kommen die frühere Herrschaft, das Königtum der Tochter Jerusalem“ (Micha 4,8). Kein Wunder, daß diese Hirten auf die Botschaft des Engels hin alles stehen und liegen ließen und sich auf den Weg machten um den zu sehen, auf den ihre Väter und seit Jahrhunderten gewartet hatten. Sie sahen - und sie „kehrten zurück, rühmten Gott und priesen ihn für alles, was sie gehört und gesehen hatten, so wie es ihnen gesagt worden war.“ (Lukas 2,20)