Michael Kunzler: Die „Tridentinische“ Messe - Aufbruch oder Rückschritt
Das vorliegende Buch hat 126 Seiten und kostet € 13,90. Es ist im Februar dieses Jahres im Verlag Bonifatius in Paderborn erschienen, der auch die meisten anderen Titel des Autors verlegt hat. Weitere Informationen zu Person und Tätigkeit von Michael Kunzler finden sich auf der Website des von ihm geleiteten Lehrstuhls für Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät Paderborn.
Novus Ordo - aber mit Goldrand
15. 5. 2008
Seit Wochen liegt der schmale Band jetzt schon auf dem Schreibtisch und sträubt sich gegen eine Besprechung. Michael Kunzler (57), Professor für Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät Paderborn will laut Klappentext „vorurteilsfreie Information“ zur tridentinischen Messe geben, und man spürt, daß es ihm mit dieser Absicht ernst ist – aber gelungen ist es ihm in unseren Augen nicht.
An der Qualifikation kann es nicht liegen. Kunzler ist Verfasser von Werken zur Theorie und Praxis der Liturgie, die nicht nur von Reformenthusiasten anerkannt sind. Im Jahr 2005 hat Papst Benedikt ihn zum Konsultor der Gottesdienstkongregation ernannt. Auch an seiner Liebe zur Liturgie, und zwar zu einer würdigen Liturgie, kann es keinen Zweifel geben. Das zeigt bereits ein zugegebenermaßen flüchtiger Blick auf seine 750seitiges Werk „Liturge sein – Entwurf einer Ars celebrandi“, das ist auch der Tatsache zu entnehmen, daß er sich nicht nur intensiv wissenschaftlich mit der Liturgie des byzantinischen Ritus beschäftigt, sondern diese Liturgie als „mitrierter Protopresbyter der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche“ auch praktiziert. Sein silbernes Priesterjubiläum hat er in diesem Ritus gefeiert – mit viel Weihrauch, goldbrokatenen Gewändern, zeremoniellem Reichtum und umgeben von den leuchtenden Bildern der Heiligen – alles Dinge, die unter dem Einfluss des neuen Ritus fast vollständig aus unseren Kirchen verbannt wurden. Also jener reformierten Form, die Kunzler für einen bedeutenden Fortschritt hält.
Kritikbereitschaft im Kleinen
Zwar ist Kunzler nicht blind gegenüber einigen der verhängnisvollsten Fehlentwicklungen in der Art, wie die Reform umgesetzt worden ist. Er räumt ein „Die Zelebration der Messe versus populum, wie wir sie heute haben, kann nicht der letzte Schluss sein“ (76), und auch eine partielle Wiederbelebung des Latein als Liturgiesprache erscheint ihm wünschenswert (82). Er gibt auch zu, daß die Zahl der Gottesdienstbesucher „trotz der Erneuerung der Liturgie“ nach wie vor kontinuierlich abnimmt (60) und tadelt in starken Worten die Grundhaltung der frei schwebenden Machbarkeit, die vielerorts die liturgische Wirklichkeit prägt. Es tut seinen „Augen weh, vor großartigen Altären der Gotik oder des Barock, die ihrer Funktion sichtbar entkleidet sind wie ehedem nur am Karfreitag, Abendmahlstische sehen zu müssen, die eher Schreibtischen ähneln“ (62), und er erkennt illusionslos: „Je mehr man versucht, durch „zeitgemäße“ Gottesdienstgestaltung den vermeintlichen Erwartungen des modernen Menschen entgegenzukommen,,...desto mehr Plätze werden leer!“ (63)
Prof. Kunzler bei der hl. Liturgie des Ostens
Dennoch scheint er bereit zu sein, all das zu ertragen, denn die Mängel und Fehlentwicklungen des nach dem Konzil von Trient vom hl. Papst Pius kodifizierten Ritus erscheinen ihm noch gravierender. Und obwohl er sich in einem lesenswerten kurzen Abriss über die geistigen Voraussetzungen der Liturgiereform gegen die Ansicht wendet, man müsse nur das „mittelalterliche Beiwerk“ wegschaffen und in ein goldenes Zeitalter der Ursprünge zurückgehen (26-28), scheint er wenige Seiten später genau in diese Vorstellung zu verfallen, wenn er die seiner Meinung nach bereits im frühen Mittelalter stattfindende Umwandlung der Messe von einer „Sache der Gemeinde“ in eine „Privatmesse des Priesters“ beklagt (32). So schwarzweiß sollte man die Dinge selbst dann nicht darstellen, wenn man nur wenig mehr als 100 Seiten zur Verfügung hat.
Sicher ist es richtig, daß die Überbetonung der Privatmesse auch negative Auswirkungen sowohl auf die Entwicklung der Theologie des Messopfers als auch auf die immer mehr reduzierte Beteiligung der Gemeinde gehabt hat. Aber ein Bewußtsein dafür, daß jede Messe eine Sache der ganzen Kirche samt aller Bewohner des himmlischen Jerusalem war, blieb doch stets erhalten – auch wenn man selbst wenig mehr als die Kette des Rosenkranzes in der Hand hatte, um sich dieser Verbindung zu vergewissern.
Affirmation im Grundsätzlichen
Obwohl wir ungern in eine Sachauseinandersetzung mit dem Lehrstuhlinhaber Kunzler eintreten, Seine Behauptung, im überlieferten Ritus sei „stets die ,Stille Messe' eines Priesters die Grundform der Messe“ gewesen erscheint uns höchst anfechtbar: Auch wenn das Missale Pius' V. nur die Minimalrubriken bietet, galt doch stets das levitierte Amt mit Schola und Ministranten als die Vollform, wenn nicht sogar das Pontifikalamt, von dem die anderen Formen als abgeleitet gedacht wurden.
Feier der silbernen Primiz
Ganz entgegen seiner Absicht zur Vermeidung von Vorurteilen wird beim lesen immer wieder spürbar, wie der Autor bei der Darstellung angeblicher Schwachstellen des alten Ritus in die Gefahr gerät, eben doch den Vorurteilen oder willkürlichen Konstrukten aufzusitzen, die vom Gros der deutschen Universitäts-Liturgologen als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis dargestellt worden sind.
So legt Kunzler legt großes Gewicht darauf, die Problematik der alten Offertoriumsgebete als eines „kleinen Kanons“ zu entfalten und die damit angeblich verbundene Gefahr darzustellen, diesen Teil der Messe als „Naturalopfer“ mißzuverstehen (35). Die angesichts des Schwindens des Glaubens an die Realpräsenz durchaus reale Gefahr, daß der Opfercharakter der hl. Messe durch das in Deutschland fast ausschließlich verwandte 2. Hochgebet nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht werden könnte, hat er demgegenüber bei der Aufzählung von Kritikpunkten an der „erneuerten Liturgie“ nicht gesehen. Insgesamt kritisiert er zwar unschöne Erscheinungen in der neuen Liturgie, verschließt aber die Augen vor den in der Liturgiereform geschaffenen Voraussetzungen und Anschlußstellen, von denen aus diese Erscheinungen sich so so entfalten konnten.
Irritierende Rede in Zitaten
Umso härter erscheint gelegentlich sein Urteil über schwerer verständliche Elemente der alten Form. Ganz und gar nicht folgen können wir Michael Kunzler, wo er durchaus zustimmend Johannes Emminghaus zitiert: "Im Missale Romanum war der Komplex um Brotbrechung und Friedenswunsch im Lauf der Zeit arg durcheinandergeraten. Die Reform des Messbuches hat besonders an dieser Stelle der Messe wieder gute Ordnung geschaffen." (38) Hier spricht der Liturgie-Ingenieur Emminghaus, der herablassend auf die Tradition der Jahrhunderte blickt, und alles, was er nicht selbst "gemacht" und "designed" hat, nicht versteht – selbst dann nicht, wenn die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ doch eines der Grundprinzipien der Liturgie ist.
Was soll daran "unordentlich" sein, daß auch an dieser Stelle (konkret im Embolismus nach dem Vater Unser) die Heiligen als die bereits am Ziel angekommenen Mitglieder der Kirche ins Gebet einbezogen werden und der Priester die Hostie bricht bei den Worten: "Komm uns zur Hilfe mit Deinem Erbarmen...."?
Verleihung der Mitra
Beträchtliche Unordnung herrscht an dieser Stelle allerdings in der reformierten Form der hl. Messe, wenn der vorgeschriebene Embolismus, wie das in der Praxis sehr oft geschieht, ganz ausgelassen wird, um gleich nach Art der Protestanten mit "Denn Dein ist das Reich..." fortzufahren. Der nun zum Höhepunkt der "aktiven Beteiligung" aller gemachte Friedensgruß führt sogar vielfach zu einer solchen Unordnung, daß man gerade für diese nach Ansicht von Ingenieur Emminghaus so gut geordnete Stelle seit Jahren über eine erneute Reform nachdenkt: Ob das allgemeine Händeschütteln, wenn es sich denn nicht vermeiden läßt, nicht an eine weniger kritische Stelle, etwa vor die Gabenbereitung, verschoben werden könne.
Das große Problem bei solchen Ausführungen - und man könnte aus dem Abschnitt über die Reformnotwendigkeiten bei der Sakramentenspendung oder aus der Gegenüberstellung der Elemente der alten und neuen Messfeier noch zahlreiche andere Beispiele anführen - liegt weniger im jeweiligen konkreten Einzelfall. Da ließen sich sicher manche Mißverständnisse ausdiskutieren, und die sehr geraffte Form der Abhandlung fördert nun wirklich nicht die notwendige Differenzierung . Das eigentliche Problem dieser Darstellung angeblicher Unzulänglichkeiten des alten Ritus besteht darin, daß dadurch - auch wenn der Autor das vielleicht so nicht beabsichtigt – wieder einmal das Bild tiefer Brüche zwischen vor und nach der Reform heraufbeschworen wird und sich letztlich die Frage stellt, wie die Kirche in ihrem liturgischen Leben so weit "degenerieren"(42) konnte, und wie die Päpste es überhaupt verantworten konnten, derlei defekte Riten überhaupt noch irgendwo länger zuzulassen. Alle seitherigen Päpste – denn schließlich hat bereits Paul VI. das erste Indult ausgesprochen, das eine (wenn auch zunächst streng eingeschränkte) Fortexistenz des alten Ritus ermöglichte.
Bruch oder kein Bruch?
Auf einer Seitenempore der Universitäts- und Marktkirche Paderborn ist die Kapelle „Zur Heiligen Weisheit“ (Hagia Sophia) eingerichtet.
Obwohl Kunzler es sicher mit guten Gründen zurückweisen würde, als Vertreter der Hermeneutik des Bruches angesprochen zu werden, wird in diesen Zusammenhängen doch unübersehbar deutlich, wie sehr das Denken in den Kategorien des Bruches die deutsche Universitäts-Liturgik geprägt und in ideologische Erstarrung versetzt hat. Dabei ist es durchaus bemerkenswert, wie der Autor es nicht nur in dem oben angeführten Fall zu vermeiden scheint, solche Überlegungen aus dem Umfeld der „Hermeneutik des Bruches“ in eigenen Worten vorzutragen: Dafür stellt sich meist ein passendes Zitat ein.
Schöne Beispiele dafür finden sich auf S. 59, wo Kunzler ganz neutral schreibt:
Zuweilen kann sich der Eindruck einstellen, als bedeute das in der Reform Erreichte einen Bruch mit der Tradition. Beispielsweise wird die Liturgiekonstitution dieses Konzils als „kopernikanische Wende" bewertet, die „das Ende des Mittelalters" bedeute; so der Liturgiewissenschaftler Josef Lengeling. Als der „entscheidende Schritt über Trient hinaus" wird die Tatsache gewertet, dass das 2. Vatikanum zum ersten Mal seit Trient amtlich festgestellt hat, „dass nicht mehr der Priester allein, sondern dass die Gemeinde als ganze Subjekt und Trägerin des liturgischen Handelns ist (Klemens Richter)“.
Ja was denn nun, und wie, möchte man hier fragen, und hat da das Konzil etwas festgestellt, oder nicht doch bloß der Liturgologe Klemens Richter? Und was meint sein Kollege Kunzler dazu?
Die untergründige Vorstellung eines Bruches prägt jedenfalls auch die Art, wie sich Michael Kunzler gegenüber dem Motu Proprio des Papstes gegenüber positioniert. Die Überzeugung des Papstes, daß heute nicht für falsch erklärt werden könne, was viele Jahrhunderte lang als das höchste und beste galt, nimmt er nicht zur Kenntnis. Kunzler sieht in Summorum Pontificum fast ausschließlich ein Versöhnungsangebot an doch irgendwie hinter den Anforderungen der Zeit zurückgebliebene Gruppen, sich der „reformierten“ Kirche wieder anzunähern (92), dabei ist er mit Forderungen von Loyalitätsbeweisen nicht zimperlich. Die Feststellung von Papst Benedikt, daß Priester aus den Gemeinschaften des alten usus die Zelebration nach dem neuen Ritus nicht „im Prinzip“ ausschließen könnten, übersetzt er so:
Sollte ein Priester (aus einer Ecclesia Dei-Gemeinschaft) trotz eines erheblichen pastoralen Notstande ... sich grundsätzlich weigern, für die Menschen und deren Seelenheil die Messe nach der ordentlichen, d.h. Der erneuerten Form zu feiern, so hätte er sich damit prinzipiell aus der kirchlichen Gemeinschaft der katholischen Kirche verabschiedet und Kirchenspaltung betrieben. Die eigentlich anstehende Konsequenz wäre die in diesem Fall nachträglich auszusprechende förmliche Erklärung der Exkommunikation.“
Man sieht: Es gibt doch noch Fälle, in denen das ansonsten als Relikt aus autoritären Zeiten abgelehnte Instrument der Exkommunikation angebracht zu sein scheint – da findet jede Lliberalität ihr Ende.
Nicht wirklich ein Fazit
Wie nicht anders zu erwarten, wirft ein Buch wie das hier vorgestellte fast auf jeder Seite Fragen und Probleme auf, von denen jedes sein eigenes Buch zur Abwägung oder Erwiderung verdient hätte. Da das nicht der Sinn einer Besprechung sein kann, kommen wir hier unsererseits zum Schluß. Dabei dispensieren wir uns auch von einem ausführlicheren Eingehen auf die im Hintergrund der Argumentation des Autors immer präsente sehr zeitbedingte Form der „Volk-Gottes-Theologie“ - selbst wenn eine Wendung wie „Freilich ist noch viel zu tun, um alle Reste einer Jahrhunderte währenden Individualisierung der liturgischen Frömmigkeit zu überwinden“ (33) wenigstens eine kurze Markierung verdient: „Alle Reste ... von Individualisierung ... überwinden“ - ja, Teile der liturgischen Bewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und der daraus hervorgegangenen Liturgiewissenschaft waren nicht nur vom Machbarkeitswahn der Epoche infiziert, sondern auch von ihren kollektivistischen Tendenzen. Das wirkt immer noch nach.
Als erste Einführung in die Problematik „Die tridentinische Messe – Aufbruch oder Rückschritt“ wollen wir die hier vorgestellte Veröffentlichung nicht empfehlen. Wer sich neu informieren möchte, findet hier keine verläßliche Richtschnur - dafür ist einiges entgegen den Absichten des Autors denn doch zu einseitig, anderes zu ambivalent. Hochinteressant ist das Buch demgegenüber für jeden, der sich schon intensiver mit der Geschichte, den Absichten und der heutigen Realität der Liturgiereform befasst hat und der sich – ähnlich wie Amy Welborn – immer wieder die Frage stellt: Was haben sie sich dabei gedacht?